16. Münchner Bohemisten-Treffen

Organisatoren
Collegium Carolinum, München
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
09.03.2012 - 09.03.2012
Url der Konferenzwebsite
Von
Esther Wahlen, Universität Regensburg

Das Münchner Bohemisten-Treffen ist im Bereich der deutschsprachigen Tschechien-Forschung bereits eine Institution. Zum 16. Mal lockte die bohemistische „Informationsbörse“ auch dieses Jahr zahlreiche Forscher/innen ins Münchner Collegium Carolinum, um ihre Forschungsvorhaben und Projekte einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen und sich über Forschungstendenzen und Entwicklungen in der deutschsprachigen Bohemistik zu informieren. Martin Schulze Wessel, der Leiter des Collegium Carolinum, charakterisierte das Bohemisten-Treffen in seiner Begrüßung als Ort, der gerade jüngeren Forscher/innen einen leichten Einstieg in die bohemistische Community biete. Mit Themenfeldern von Nation über Identität bis hin zu Erinnerung und Netzwerken zeige auch das diesjährige Treffen, dass die deutschsprachige Tschechien-Forschung Anschluss an internationale Forschungstendenzen finde.

Nach einem Grußwort von Zuzana Jürgens, der Leiterin des tschechischen Zentrums München, leitete Volker Zimmermann zum ersten Panel über. Dieses stand unter dem Titel „Nationale Kategorien in der tschechoslowakischen Politik und Kultur“ und befasste sich zum einen mit Minderheitenpolitik, zum anderen mit unterschiedlichen Akteur/innen der lokalen Erinnerung. Zunächst stellte RENÉ KÜPPER (München) sein Projekt „Edvard Beneš und die nationalen Minderheiten in der Tschechoslowakei 1919-1938“ vor. In diesem am Collegium Carolinum angesiedelten DFG-Projekt wirft er einen für den deutschen Kontext eher ungewohnten Blick auf die Minderheitenpolitik Benešs. Küppers Ziel ist es, Benešs Nationalitätenpolitik in Bezug auf seine politische Laufbahn zu untersuchen und damit Kontinuitäten und Änderungen zu erklären. Als wichtige Einflüsse auf Benešs Handlungsmöglichkeiten charakterisierte Küpper zum einen das Verhältnis der Tschechoslowakei zu den Mutterländern der jeweiligen Minderheiten, das diese allein wegen der geografischen Lage der Tschechoslowakei nicht habe vernachlässigen können, weiterhin minderheitenpolitische Vorgaben des Völkerbunds sowie innenpolitische Machtkämpfe, auch innerhalb von Benešs eigener Partei. Grundsätzlich sei Benešs Minderheitenpolitik jedoch als pragmatisch und zweckorientiert zu charakterisieren – so sei es ihm durchaus wichtig gewesen, vor allem die Ungarn und die Deutschen nicht zu entrechten, sondern diese „widerspenstigen“ Minderheiten über eine Integration in den Nationalstaat zu demokratisieren. In der Diskussion wies Küpper auf die engen Grenzen hin, die Benešs Minderheitenpolitik durch die national aufgeladene Stimmung in der Zwischenkriegszeit gesetzt waren – als deutsch- oder minderheitenfeindlich könne man sie aber nicht charakterisieren. Das negative Beneš-Bild, das von vielen Sudetendeutschen bereits vor Beginn des Zweiten Weltkrieges gezeichnet worden sei, sei weder ein allgemein akzeptiertes gewesen, noch lasse es sich faktisch rechtfertigen.

Nationale Minderheiten spielten auch im Vortrag von FRAUKE WETZEL (Dresden/Siegen/Ústí nad Labem) eine Rolle, und zwar als Träger individueller und kollektiver Erinnerungen. Wetzel stellte ihr Dissertationsprojekt vor, in dem sie sich mit der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in Ústí nad Labem während der sozialistischen Zeit auseinandersetzt. Die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts spiegle sich in vielfacher Weise im Stadtbild wider; eine Auseinandersetzung mit seinem Umbau und den daran beteiligten Akteur/innen könne insofern zum Verständnis der Erinnerungspolitik beitragen. Wetzel gab im Folgenden einen chronologischen Abriss über die Geschichte der Erinnerungspolitik und ihrer Umsetzung. Die Periode der unmittelbaren Nachkriegszeit charakterisierte sie in Bezug auf erinnerungspolitische Maßnahmen als stark nationalpolitisch geprägt. In den fünfziger und sechziger Jahren seien dann lokale Besonderheiten stärker zum Tragen gekommen. So hätten die verbliebenen Deutschen und weitere Minderheiten zunehmend Aufmerksamkeit erhalten; weiterhin hätten sich Betriebe im industriell geprägten Ústí als wichtige Akteure der Umgestaltung durchsetzen können. Im späten Sozialismus seien vor allem individuelle Aneignungsprozesse zu beobachten gewesen. Insgesamt zeige sich somit, dass recht unterschiedliche „Gruppen“ von Akteur/innen an der lokalen Umsetzung der Erinnerung und der Umgestaltung des öffentlichen Raumes beteiligt gewesen waren.

Das zweite Vormittagspanel bot unter der Moderation von Jana Osterkamp zum einen die Möglichkeit, neue Projekte und Institutionen vorzustellen, zum anderen wurden in einem Schnelldurchlauf neue Forschungsvorhaben präsentiert. Dieses Mal gab es nicht nur gute Nachrichten. So informierte ROBERT LUFT (München) über die Generalinventur in den tschechischen Archiven: Diese Inventur findet von Juni 2012 bis Dezember 2013 statt und betrifft alle staatlichen Archive der Tschechischen Republik. Archivaufenthalte sind weiterhin möglich, doch ist es den Archiven freigestellt, ihre Öffnungszeiten einzuschränken oder einzelne Bestände kurzfristig von der Nutzung auszuschließen. Da es keine einheitlichen Regelungen gibt, wird empfohlen, Archivaufenthalte so früh wie möglich zu planen, mit den Archivleiter/innen abzusprechen und gegebenenfalls Sonderberechtigungen zu erbitten.

Erfreulicher waren sicherlich die Ausführungen zum „Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa“, dessen Konzeption MARCO BOGADE (Oldenburg) vorstellte. Das am Institut für Germanistik der Universität Oldenburg angesiedelte Online-Projekt, das seit 2011 bearbeitet wird und stetig erweitert werden soll, hat den Anspruch, alle geografisch relevanten Gebiete für die Deutschen des östlichen Europas zu erfassen, und zwar von der Periode des Hochmittelalters bis heute. Die Qualität soll zum einen durch die Autor/innen gewährleistet werden, bei denen es sich um renommierte Wissenschaftler/innen aus dem In- und Ausland handelt, zum anderen durch ein Redaktionsteam, das die Qualität der Artikel prüft und für eine regelmäßige Aktualisierung sorgt.

Drei miteinander verbundene Projekte aus dem Vogtland bildeten das Thema der nächsten Präsentation. Zunächst stellte HAGEN RÜSTER (Greiz) den Greizer Verein „Dialog mit Böhmen“ vor. Dieser Verein, der vor gut zehn Jahren gegründet wurde, widmet sich dem tschechisch-deutschen Verhältnis – und zwar ausdrücklich über die sudentendeutsche Erfahrung hinaus – und verfolgt das Ziel, die nachbarschaftlichen Beziehungen von Tschechen und Deutschen über Bildungs- und Informationsangebote zu verbessern. Das Ziel3-Projekt „Grenzüberschreitungen“, das ULRICH JÜGEL (Greiz) präsentierte, wird im Rahmen eines EU-Programms zur Förderung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit ermöglicht und richtet sich an ein breites Publikum: Über Studienfahrten und Jugendbegegnungen habe man bereits erfolgreich Schüler/innen für die Region interessieren können, und mit den „Greizer Kolloquien“ werde das interessierte Fachpublikum erreicht. Abschließend gab MILOŠ ŘEZNÍK (Chemnitz) einen Einblick in die Arbeit dieser Kolloquien, bei denen unter anderem die Beziehungen zwischen der DDR und der Tschechoslowakei auf dem Programm stehen.

Nach den Institutionen wurden die eingereichten Exposés vorgestellt – entweder von ihren Autor/innen oder stellvertretend von Moderator Robert Luft. Die Autor/innen waren gehalten, ihre Vorhaben in „einem Satz“ darzustellen. Auf diesem Weg sollten Nachfragen und Diskussionen in den folgenden Pausen (oder bei weiteren Gelegenheiten) angeregt werden. Bei den vorgestellten Projekten handelte es sich nicht nur um aktuelle Forschungsarbeiten, sondern auch um Tagungs- und Projektankündigungen sowie Ausstellungshinweise. Thematisch reichte das Spektrum von den Urkunden Kaiser Sigismunds über die sprachliche Akkulturation Heimatvertriebener in Mecklenburg bis hin zur Grenzlandfotografie im Frühsozialismus. Die vorgestellten Exposés können unter http://www.collegium-carolinum.de eingesehen werden, wo sie langzeitarchiviert sind.

In der Nachmittagssektion zu „Erinnerungen, Identitäten und Netzwerke[n]“ erteilte die Moderatorin Christiane Brenner zwei Doktorandinnen das Wort, die sich in ihren Arbeiten mit Ost-West-Zusammenhängen auseinandersetzen. ULRIKE LUNOW (München) siedelte ihr Projekt zur „Präsentation der NS-Zeit in KZ-Gedenkstätten im tschechoslowakisch-französischen Vergleich“ im Bereich der Memory Studies an und wies darauf hin, dass KZ-Gedenkstätten in diesem Feld erstaunlich unterforscht seien. Dabei böten sie Gelegenheit, das Zusammenwirken verschiedener Handlungsträger/innen und die Veränderung geschichtspolitischer Entwicklungen auf engstem Raum zu studieren. Der Vergleich der tschechoslowakischen Gedenkstätte Terezín/Theresienstadt und der französischen Gedenkstätte Natzweiler-Struthof biete sich an, da die politischen Erfahrungen der deutschen Besatzung in Frankreich und der Tschechoslowakei zum einen Gemeinsamkeiten, der politische Kontext des Kalten Krieges dagegen eher unterschiedliche Entwicklungen erwarten ließen. Interessanterweise überwögen bei den bisherigen Funden die Parallelen. So lag der Schwerpunkt in beiden Ländern lange Zeit auf dem Gedenken an politische Häftlinge und wurden die jüdischen Opfer erst nach einigen Jahrzehnten explizit berücksichtigt. Auch lasse sich in Frankreich wie der Tschechoslowakei eine Anpassung der Gedenkpolitik an die politische Agenda feststellen. Zudem zeige sich, dass „der Staat“ als Akteur der Erinnerungskultur nicht allmächtig sei, sondern Überlebende, Angehörige und Mitarbeiter/innen der Gedenkstätten durchaus willens und in der Lage gewesen seien, eigene Rituale zu etablieren. Lunow stellte somit als mögliches Forschungsergebnis in den Raum, dass sich trotz der nationalen und systemspezifischen Eigenheiten gemeinsame europäische Entwicklungen in der Erinnerungskultur zeigten.

Auf eine andere Art der blockübergreifenden Zusammenarbeit bezog sich ZUZANA BIL’OVÁ (München) in der Darstellung ihrer kunsthistorischen Dissertation, die sie als Mitglied der Forschungsgruppe „Exil, Migration, Kunst“ beim Center of Advanced Studies verfasst. Sie beschäftigt sich mit Netzwerken zwischen tschechischen und westdeutschen Künstler/innen und Kunsthistoriker/innen in der Zeit von 1968 bis 1989, das heißt in einer Periode, in der Künstler/innen in der Tschechoslowakei strenge kulturpolitische Vorgaben zu beachten hatten. Dabei handelte es sich zum einen um die Netzwerke von Emigrant/innen in Westdeutschland, die sich häufig der inoffiziellen Kunst in der Tschechoslowakei politisch verpflichtet fühlten, zum anderen um Netzwerke westdeutscher Künstler/innen und Kunstkritiker/innen, die sich der Qualität der Kunstszene hinter dem Eisernen Vorhang bewusst waren und diese fördern wollten. Außerdem gab es diplomatische Netzwerke, die offizielle Unterstützung aus der Tschechoslowakei erhielten. Bil’ová zufolge eignet sich der Netzwerkbegriff für die Untersuchung eines kunstgeschichtlichen Phänomens besonders gut: Die Veränderung und Adaption von Kunststilen könne ohne den wechselseitigen Austausch nicht angemessen erklärt werden. So hätten sich bestimmte westliche Kunstformen wie die Konzeptkunst über Netzwerke bei tschechoslowakischen Künstler/innen durchsetzen können.

Das letzte Panel widmete sich der „Kultur zwischen Politik und Geschichte“ und verließ, wie die Moderatorin Martina Niedhammer anmerkte, den Bereich der Geschichtswissenschaft am deutlichsten. Die Studie von PETER DEUTSCHMANN (Graz) war zudem die einzige, die ins 19. Jahrhundert führte – dafür deckte sie dieses jedoch fast vollständig ab. In seinem vor kurzem abgeschlossenen Habilitationsprojekt „Zeitgeschichtliche Implikationen des tschechischen historischen Dramas“ berücksichtigt Deutschmann eine Vielzahl von tschechischen Dramen aus der Periode von 1810 bis 1935. Aus diesen arbeitete er die Narrationen heraus und ordnete sie in ihren politischen Kontext ein. Als Ergebnis hielt Deutschmann fest, dass sich die politischen Entwicklungen dieser Zeit, das heißt der Nationsbildungsprozess und der Übergang von der Monarchie zur Demokratie, auch im Drama widerspiegelten. Letzterer zeige sich etwa bei der relativ großen Handlungsmacht von Frauen. Fürsten stellten dagegen eher schwache Figuren dar; ihre inneren Zwistigkeiten und wenig umsichtige Prinzipientreue spielten dem historischen Feind in die Hände und wurden als Ursachen für die politische Unselbstständigkeit gewertet. Damit charakterisierte Deutschmann das tschechische historische Drama – ähnlich wie das tschechische Nationaltheater – als symbolische Verkörperung der tschechischen nationalen Aspirationen.

Im letzten Beitrag stellte ULRIKE PRÄGER (Boston) ihr musikwissenschaftliches Dissertationsprojekt vor, das sich mit der „Rolle der Musik für die Deutschen aus den böhmischen Ländern im Kontext der Nachkriegszeit“ auseinandersetzt. Musik und Tanz sind, so Präger, bislang kaum beachtete Themen im Akkulturationsprozess der ausgesiedelten Deutschen. Dabei handele es sich bei Musik um ein grenzüberschreitendes Phänomen par excellence, was sich unter anderem daran zeige, dass auch die von Sudetendeutschen erinnerte und gepflegte Musik oft stark tschechisch geprägt sei. Präger beabsichtigt, mittels teilnehmender Beobachtung und der Befragung von Zeitzeug/innen – darunter professionelle und Laienmusiker/innen – die Relevanz dieser Musik im Kontext von Krieg, Ausweisung und Integration zu bewerten. Viele der Befragten hätten angegeben, dass das identitätsstiftende Moment der Musik nach dem Zweiten Weltkrieg an Intensität gewonnen habe. Das gemeinsame Musizieren und das Gefühl, wieder eine gesellschaftliche Rolle einzunehmen, hätten es erleichtert, sich bei allen Integrationsschwierigkeiten nach und nach ein neues Gefühl von Heimat in der Bundesrepublik zu schaffen. In ihrem Beitrag, den sie mit Filmausschnitten tanzender und musizierender Sudetendeutscher unterlegte, wies Präger auch auf den drohenden Verlust des musikalischen Erbes hin, da die Traditionen von jüngeren Generationen kaum fortgeführt oder dokumentiert würden.

Robert Luft, der Organisator des Bohemisten-Treffens, zeigte sich abschließend zufrieden mit dem „Ritt durch unterschiedlichste Fächer, Methoden und Fragestellungen“ – dies mache den Spaß und das Potential des Treffens aus und solle auch für die folgenden Treffen beibehalten werden. Trotz der thematischen Breite, die das Treffen charakterisierte, zeigten sich bei den vorgestellten Studien jedoch auch wichtige konzeptionelle Anknüpfungspunkte: So verlassen viele Arbeiten explizit den nationalen (tschechischen/tschechoslowakischen) Rahmen und nehmen transnationale Netzwerke, außenpolitische Verflechtungen, Ländervergleiche und Grenzüberschreitendes in den Blick. Dabei überwogen auch beim diesjährigen Bohemisten-Treffen geschichtswissenschaftliche Themen. Weitere Beiträge stammten vor allem aus dem Bereich der Kultur- und Literaturwissenschaften. Eine sinnvolle Ergänzung wäre sicherlich die verstärkte Einbindung weiterer Disziplinen (etwa der Wirtschafts- und der Rechtswissenschaften).

Konferenzübersicht:

René Küpper (München): Edvard Beneš und die nationalen Min¬derheiten in der ČSR 1919-1938

Frauke Wetzel (Dresden/Siegen): Erinnerung im lokalen Raum zwischen zentralen Vorgaben und regionaler Um¬setzung: Ústí nad Labem 1945-89

Robert Luft (München): Informationen über die Generalinventur 2012/13 in den tschechischen Archiven

Marco Bogade (Oldenburg): Das Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa

Ulrich Jugel/Hagen Rüster (Greiz): Der Greizer Verein „Dialog mit Böhmen“ und das Projekt „Grenzüberschrei¬tungen“

Miloš Řezník (Chemnitz): Die Greizer Kolloquien

Kurzvorstellung von vorliegenden Exposés (ohne Diskussion), Vgl. dazu das laufend aktualisierte Verzeichnis auf der CC-Homepage http://www.collegium-carolinum.de

Peter Deutschmann (Graz): Allegorien des Politischen. Zeitgeschichtliche Implikationen des tschechischen historischen Dramas 1810-1935

Ulrike Lunow (München): Der Umgang mit der NS-Zeit während des Kalten Krieges im tschechoslowakisch-französischen Vergleich

Zuzana Bilová (München): Netzwerke zwischen tschechoslowakischen und westdeutschen Künstlern und Kunsthistorikern 1968-1989

Ulrike Präger (Boston): Zwischen Grenzen und Identitäten: Die Rolle der Musik für die Deutschen aus den böhmischen Ländern im Kontext von Ausweisung und Vertreibung